Sigmar Gabriel: Ich will keine Überwachung, nur die Vorratsdatenspeicherung

Sigmar Gabriel tourt gerade durch die Lande um die SPD-Basis zur Zustimmung zum Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode zwischen CDU/CSU und SPD zu bewegen. Heute nun äußert er sich überschwänglich lobend zu dem Aufruf der Autorengruppe „Writers Against Mass Surveillance“ auf seiner Facebookseite:

560 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der ganzen Welt, darunter fünf Literaturnobelpreisträger, protestieren mit einem internationalen Aufruf gegen die systematische Überwachung im Internet durch Geheimdienste. Sie rufen dazu auf, die Demokratie in der digitalen Welt zu verteidigen.

Das ist eine wunderbare und beeindruckende Aktion. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich Intellektuelle jemals global in dieser Form zusammengeschlossen haben. Der Kampf um bürgerliche Freiheiten hat einst national begonnen, jetzt findet er erstmals international gemeinsam statt. Ein tolles Zeichen! Ich werde die deutschen Unterzeichnerinnen und Unterzeichner Anfang des Jahres zu einem Gespräch einladen.

Im Gegensatz dazu, findet sich auf Seite 147 des Koalitionsvertrages „Deutschlands Zukunft gestalten“ vom 27.11.2013 Folgendes (gemeint ist dort die EU-Richtlinie 2006/24/EG):

Vorratsdatenspeicherung
Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und die Nutzung von Telekommunikationsverbindungsdaten umsetzen. Dadurch vermeiden wir die Verhängung von Zwangsgeldern durch den EuGH. Dabei soll ein Zugriff auf die gespeicherten Daten nur bei schweren Straftaten und nach Genehmigung durch einen Richter sowie zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben erfolgen. Die Speicherung der deutschen Telekommunikationsverbindungsdaten, die abgerufen und genutzt werden sollen, haben die Telekommunikationsunternehmen auf Servern in Deutschland vorzunehmen. Auf EU-Ebene werden wir auf eine Verkürzung der Speicherfrist auf drei Monate hinwirken.

Nachdem er nun ob seiner Heuchelei mächtig angegangen wird, legt er noch nach:

Mehr als 560 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus aller Welt haben in einem Appell dazu aufgerufen, den millionenfachen Verstoß gegen elementare Grund- und Freiheitsrechte durch die NSA und andere Geheimdienste nicht länger zu tolerieren. Ich habe hier auf Facebook geschrieben, dass ich diesen Appell für eine gute Sache halte.

In sehr vielen Kommentaren wird mir jetzt – mal höflicher, mal weniger höflich – vorgehalten, das passe nicht zu meiner Haltung zur Vorratsdatenspeicherung. Ehrlich gesagt: Mich verblüfft diese Argumentation.

Das von einem SPD-Parteitag beschlossene Konzept zur Vorratsdatenspeicherung sieht vor, dass bei einem Verdacht auf schwere Straftaten von einem Richter entschieden werden kann, dass auf bei den Providern gespeicherte Daten zugegriffen werden kann. Wir wollen mehr, als das Bundesverfassungsgericht für eine grundrechtskonforme Umsetzung der EU-Richtlinie vorgegeben hat. Vor allem eine deutlich kürzere Speicherfrist – so haben wir das auch im Koalitionsvertrag durchgesetzt.

Die Praxis der NSA und anderer Geheimdienste sieht so aus, dass flächendeckend sämtliche Kommunikationsvorgänge erfasst und gespeichert werden – ohne Verdacht auf eine schwere Straftat, ohne Richtervorbehalt, offensichtlich sogar ohne Rechtsgrundlage.

Wer die NSA-Praxis mit der Vorratsdatenspeicherung im oben beschriebenen Sinne gleichsetzt, verniedlicht das, was Geheimdienste gegenwärtig treiben.

Bisher ist nicht ganz klar, ob Sigmar Gabriel über das nachdenkt was er schreibt, aber er schafft es zumindest damit seine Leser zu verblüffen, denn bei der VDS — auch Mindestspeicherfrist genannt — werden ebenfalls vollkommen anlasslos und flächendeckend alle Kommunikationsvorgänge gespeichert. Der Richtervorbehalt ändert nichts daran, daß alle Bürger unter Generalverdacht gestellt werden. Außerdem hat die Praxis gezeigt, daß a) die Richter abzeichnen was man Ihnen vorlegt (vgl. Filesharing) und b) die Zugriffsmöglichkeiten nach und nach erweitert werden werden. Ob mit oder ohne Richtervorbehalt, der Grundrechteeingriff ist allein durch die Existenz einer VDS gegeben. Und da wundert er sich warum die SPD ein schlechtes Wahlergebnis hat. Mit Recht!

Ich weiß nicht was für Drogen Sigmar Gabriel seinem Blutkreislauf zugeführt hat, aber ich empfehle allen SPD-Mitgliedern die für den Koalitionsvertrag stimmen in solchen Fällen immer Ypsilan.

Übrigens hat Sigmar Gabriel bei Ablehnung des Koalitionsvertrages durch die SPD-Basis versprochen zurückzutreten. Ich hoffe, wenigstens das war kein leeres Versprechen.

Nachtrag 11.12.2013:
Weil es gerade sehr aktuell ist, ein kurzer Nachtrag zum Wert des Richtervorbehaltes. Die Abmahnwelle zu RedTube zeigt sehr gut, wie lax die Prüfung in den Gerichten von den Richtern durchgeführt wird. Selbst wenn man dem Gericht zu Gute halten mag, daß sie — jedenfalls meiner Meinung nach — hier von der Rechtsanwaltskanzlei Kanzlei Urmann + Collegen (U+C) regelrecht über den Tisch gezogen wurden. Die Anfragen waren dergestalt formuliert (PDF), RedTube ist eine Streaming-Portal kein Filesharingdienst, um die Richter auf die falsche Spur zu führen. Funktioniert hat dieser Taschenspielertrick nur, weil nicht sorgfältig geprüft wurde und bei den Richtern wohl auch, wie bei Politikern, Sachkenntnis fehlt. Man kann nur zu hoffen, daß diese Abmahnwelle nicht ohne deftige juristische Konsequenzen für die Kanzlei und deren Mandantin, die The Archive AG, bleibt.

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