Mißverstandene Zivilcourage

In der Zeit gab es ein Artikel mit dem Titel „Fall Tuğçe: Hat Zivilcourage Grenzen?“ von Martin Klingst. Als Einleitung schildert er einen Vorfall in der Berliner U-Bahn, den er für Zivilcourage hält:

Ein guter Freund von mir saß am Wochenende in der Berliner U-Bahn. Drei Rumänen stiegen ein, spielten munter auf ihren Trompeten und baten um eine kleine Spende. Ein kräftiger Mann, so um die fünfzig Jahre, fühlte sich gestört. Er herrschte „das ausländische Musikantenpack“ an, sofort aufzuhören und donnerte mit einem metallenen Gegenstand gegen die Scheibe.

Mein Freund forderte den Mann auf, seine Drohgebärde einzustellen und die Musiker gewähren zu lassen. Woraufhin der Mann mit einer Hand zur Notbremse griff, mit der anderen weiter gegen die Scheibe schlug und dem Freund wütende Blicke zuwarf. Die Trompeter verstummten, die Menschen drumherum schauten betreten zu Boden und schwiegen.

Wenn es denn diesen ominösen Freund gibt, muss man sich schon fragen ob man dies als Zivilcourage und vor allen Dingen als nachahmenswerte Handlungsleitlinie betrachten soll. Hier hat jemand auf ziemlich unhöfliche Art und Weise seine Meinung geäußert, aber es lag keine Gefahrensituation vor, in die ein Eingreifen unbedingt notwendig erschien. Durch seinen Eingriff hat der Freund erst dazu beigetragen die Situation auf eine höhere Eskalationsstufe zu heben, also genau das Gegenteil dessen erreicht, was sinnvoll gewesen wäre. Der Vorfall hätte sich in jedem Falle innerhalb der nächsten Minuten von ganz alleine aufgelöst, denn entweder wären der Mann oder die Musiker ausgestiegen, hier war es eben der Mann. Übrigens hat der Mann gar nicht dumm gehandelt in dem er sich an der Notbremse festgehalten hat. Einerseits hat er damit gezeigt, daß er nicht tätlich werden will und andererseits hätte er bei einem Angriff auf seine Person einen Hilfemechanismus in Gang setzen können. In jedem Falle wären dann die Angreifer in Erklärungsnot geraten. Aber davon abgesehen, Zivilcourage bedeutet eben nicht, immer und überall ungefragt einzugreifen, sondern abzuwägen und auch mal die Klappe zu halten, auch wenn es schwerfällt. Die Welt wird nicht dadurch besser, wenn nun jeder meint sich überall einmischen zu müssen. Bei vielen Menschen auf engem Raum ohne die Möglichkeit sich zurückziehen zu können, kommt es unweigerlich zu Reibereien, die sehr schnell eskalieren können. Ruhig bleiben kann in diesen Fällen die zweckmäßigste Handlungsweise sein.

Was bei der Schilderung des Freudes vom Autor vollkommen außer acht gelassen wurde, ist eine Betrachtung zur Rechtmäßigkeit der jeweils Handelnden. Grundsätzlich ist laut den Beförderungsbedingungen des VBB dem die BVG angehört das Musizieren in den Fahrzeugen untersagt, mit gutem Grund.

§4
(2) Fahrgäten ist insbesondere untersagt:
[…]
10. Tonwiedergabegeräte, Tonrundfunkempfänger oder Musikinstrumente zu benutzen (außer bei Vorliegen einer schriftlichen Erlaubnis des jeweiligen Verkehrsunternehmens) oder Tonwiedergabegeräte mit Kopfhörern zu benutzen, wenn durch die Lautstärke andere Fahrgäste belästigt werden, […]

Natürlich hält sich kaum jemand an diese Anweisungen, genausowenig wie an das Verbot des Essens und Trinkens. Kebabs, Bierflaschen und Kaffeebecher sind üblich, wobei das Feierabendbier überhaupt kein Problem darstellt, wohl aber die allgegenwärtigen Kaffeebecher auf Grund ihrer Instabilität. Im Gegensatz zu Bierflaschen kann man Kaffeebecher weder zwischen die Beine klemmen, noch in der Rucksackseiten-, Hosen- oder Jackentasche zwischenlagern. Außerdem haben die Kaffeetrinker sowieso nur eine Hand frei, da die Andere fest mit dem Händi verwachsen ist. Das ist aber von den Vekehrsbetrieben indirekt verursacht, da inzwischen auf allen Innenstadtbahnsteigen mindestens eine Imbißbude ist. Aber zurück zum Thema. Ich hege ernsthafte Zweifel, ob diese Musiker eine schriftliche Erlaubnis zum Musizieren in den Wagons hatten. Man kann also durchaus der Meinung sein, daß hier der Mann die Musiker vollkommen zu Recht, wenn auch auf äußerst unnötig unflätige Art und Weise, zurechtgewiesen hat. Weiterhin bezweifle ich, daß die anderen Fahrgäste tatsächlich so betreten über das Verahlten des Mannes waren wie geschrieben, manch einer dürfte froh gewesen sei, den Lärm nicht mehr ertragen zu müssen. Gerade die südosteuropäischen Musiker haben es sich nämlich zur Mode gemacht, nicht einfach nur ein Musikinstrument zu spielen, sondern sie haben eine Einkaufskarre dabei, auf der ein bierkastengroßes, batteriegetriebenes Wiedergabegerät befestigt ist. Bei betreten des Zuges wird dieses für die Begleitmusik angeschaltet und zusätzlich ein Musikinstrument gespielt, gerne Mal ein Saxophon oder eine Trompete. Das löst im Allgemeinen keine Begeisterungsstürme aus, die Meisten hoffen inständig, daß auch dieser Kelch an ihnen vorüberzieht.

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