Im Spiegel kam ein interessantes Interview mit dem Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Göttert über Rhetorik und Redekultur (und sein neues Buch [1]).
Göttert: Die europäische Redekultur verändert sich zurzeit stark. Sie ist unter Druck geraten, nicht nur durch die Globalisierung. Auch das Fernsehen und die Emanzipation haben ihren Einfluss. Aus der Psychologie wissen wir, dass die sprachliche Kunst, die jahrhundertelang so gut gewirkt hat, weniger erfolgreich ist.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch taucht nur eine einzige Rednerin auf: Rosa Luxemburg. Ist die europäische Redekultur eine Kultur männlichen Redens?
Göttert: Das war sie, ja, aber das verändert sich eben gerade. Die amerikanische Psycholinguistik unterscheidet männliche und weibliche Rede. Als männlich gilt eine Rede, die stark logisch orientiert ist, also auf Antithesen und Paradoxe setzt. Als weiblich gilt eine Rede, die mit Beispielen und Erzählungen arbeitet. Und siehe da: Beispiele erweisen sich heute erfolgreicher als Logik. Anders gesagt: Empathie schlägt Überwältigung.
SPIEGEL ONLINE: Der bekannteste Vertreter dieser weiblichen Redekultur ist ein Mann: Barack Obama.
Göttert: Genau. Man weiß, dass er seinen Aufstieg wie kein anderer US-Präsident Reden zu verdanken hat, in denen er immer wieder von sich selbst erzählt, von seiner Herkunft, von seinem Großvater. Die Reden leben vom konkreten Beispiel.
Die Strategie die hier als „weiblich“ beschrieben wird, findet sich nicht nur bei Politikern (Ursula von der Leyen — Zensursula — ist im Schlechten hierfür ebenfalls ein gutes Beispiel, „denkt doch mal die Kinder“), sondern in geradezu exzessiver Weise in Esoterik und Pseudomedizin. Wer sich die Vorträge von Homöopathen und all den anderen Quacksalbern anhört findet genau diese Masche. Der Zuhörer wird nicht mit Fakten belästigt, sondern mit Heilsgeschichten empathifiziert, der Vortragende wird dadurch zum Messias. Sagen wir es direkt, diese „Redekultur“ ist die von Märchenerzählern. Wen interessiert wahr oder falsch, sinnvoll oder sinnlos, wenn von Menschen (auch gerne Mal Haustieren) erzählt wird, die von ihren Leiden befreit wurden? Das Zukleistern des Gehirns mit diesen Heilsgeschichten verhindert wirkungsvoll eine analytische Auseinandersetzung auf sachlich-wissenschaftlicher Ebene. Und genau darum geht es auch nicht. Meist ist es sogar noch schlimmer, ein wesentlicher Teil der Zuhörer ist dadurch dauerhaft blockiert, daß er rationalen Argumenten gar nicht mehr zugänglich ist, er will schlicht nichts Anderes mehr hören.
Das kann sicherlich jeder nachvollziehen, der schon mal versucht hat mit Homöopathen oder mit, weil gerade mal wieder besonders aktuell, Impfgegnern zu diskutieren. Der Zugang zur Ratio ist versperrt, aus Empathie und Begeisterung ist tiefer, irrationaler Glaube geworden. Das Verdrängen der Ratio und die Betrachtung auf rein emotionaler Ebene ist einer der Gründe warum Aufkläungsarbeit schwierig bis unmöglich wird.
Dabei ist diese Form der Redekultur bei Weitem nicht neu, sie ist Jahrtausdende alt, bildet sie doch das Grundprinzip nach dem Religionen funktionieren. Man schaue in die religiösen Schriften und Erzählungen von Juden, Christen, Mohammedanern, Buddhisten, Hinduisten oder „Naturreligionen“, alle bestehen in weiten Teilen aus einer Ansammlung von Anekdoten in denen die Protagonisten als Beispiele für gutes oder schlechtes Handeln stehen, doch nirgends findet kritisches Hinterfragen statt. Im Gegensatz zu Beispielen kostet die dafür benötigte Denkarbeit viel Zeit und manchmal ein hohes Maß an Bildung. Ein einfaches Beispiel als Handlungsanweisung versteht hingegen praktisch jeder. Insofern könnte die Ausbreitung der „weiblichen“ Redekultur auch ein Anzeichen für sinkendes Bildungsniveau sein und mit zunehmender Verbreitung dieser Form sinkt wiederum das Bildungsniveau. Ein Teufelskreis.
Anekdoten haben für den Redner noch weitere Vorteile. Sie lassen sich so gut wie nie sachgerecht überprüfen, schon gar nicht während einer Veranstaltung, und meist sind sie darüberhinaus nicht fachgerecht dokumentiert worden. Diese beiden Punkte entziehen damit einer Diskussion jegliche Grundlage, denn wie soll kritisches Nachfragen erfolgen, wenn keine gesicherten Daten vorliegen. In dieser Situation gilt für den Vortragenden das in dubio pro reo, welches ihm meist schon aus Höflichkeit umstandslos und unausgesprochen gewährt wird, da das Anzweifeln einer Bezichtigung der Lüge gleichkäme und dem Nachfragenden automatisch die Rolle des Angreifers zufällt.
Literatur
- Mythos Redemacht: Eine andere Geschichte der Rhetorik. Karl-Heinz Göttert. Verlag S. Fischer, 2015, ISBN-13 978-3-10026531-9, 512 Seiten, 24,99 €.