Parteiräson

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell sich Menschen durch Gruppendruck auf Linie bringen lassen, selbst wenn keine Gefahr für Leib und Leben besteht. So auch im Falle des niedersächsischen Grünen-Landtagsdirektkandidaten und Gegners der Knabenbeschneidung Ulf Dunkel, der nach der Veröffentlichung zweier Gedichte zur grünen Parteiräson gerufen wurde und bereits vor der Wahl „zurückgetreten wurde“, denn er erklärte seinen Rücktritt falls er gewählt werden sollte. Anstatt also dem Wähler tatsächlich die Wahl zu überlassen, wird die Person aus den Reihen ausgeschlossen. Ein echtes Lehrstück von Toleranz!

Gedicht zur Abschaffung der Menschenrechte
für Jungen in Deutschland

Wetzt das Messer, singt ein Lied,
Ab die Vorhaut von dem Glied.
Kinder können sich nicht wehren,
darum müssen sie uns ehren.
Wir verstümmeln, wir beschneiden
Recht und Vorhaut; allen beiden
muss man hier den Garaus machen,
denn wir steh’n auf solche Sachen.
Und ihr Schreien hilft so wenig,
denn wer festhält, ist der König.
Wir bestimmen, was hier Recht.
Wer dagegen ist, ist schlecht.
Gründe sind uns ganz egal,
der Verstand, der kann uns mal.
Bist Du für ein intaktes Glied,
so bist Du gleich Antisemit.

und nachgelegt:

Warum hört ihr nicht, was die Babys euch sagen?
Sie schreien sich die Seele aus dem Leib!
Warum ist euer Herz so kalt gegen eure Kinder?
Warum ist es so verloren an eure Religion?
Arschlöcher seid ihr alle, blinde Fanatiker,
seit Jahrhunderten und Jahrtausenden traumatisiert
und habt das Trauma weiter und weiter gegeben.

Mit der Sprachwahl des zweiten Gedichtes ist er sicherlich über das Ziel hinausgeschossen — für die er sich auch entschuldigt hat (z.B. Presseerklärung) —, aber inhaltlich liegt er in der teilweise sehr emotional geführten Debatte nicht daneben. Während die muslimischen Verbände zurückhaltend reagierten, sich aber dennoch eindeutig positionierten, kam von Seiten jüdischer Vertreter umgehend der Antisemitismusvorwurf. Pinchas Goldschmidt, Präsident der europäischen Rabbiner, sieht in dem Beschneidungsverbot den „vielleicht gravierendsten Angriff seit dem Holocaust“. Andere sehen darin die „schlimmste Grausamkeit gegen die Juden seit dem Holocaust“ und die selbstbestimmte Beschneidung mit 18 Jahren „sei aus religiöser Sicht aber noch schlimmer als die physische Vernichtung“, so die Meinung des Berliner Rabbiners Ehrenberg, verkündet am 09.09.2012 auf dem Bebelplatz in Berlin.

Vor dem Hintergrund solch unsinniger Vorwürfe ist die Wortwahl von Herrn Dunkel nicht ganz unverständlich und dürfte in ähnlicher Form so manch einem durch den Kopf gegangen sein, denn zur Gleichsetzung des Einsatzes für die körperliche Unversehrtheit (kleiner Jungen) mit millionenfachem Mord, erfordert es mindestens schon eine gehörige Portion an Fanatismus.

Auch wenn Herrn Dunkels Wut sich eigentlich gegen die Falschen richtet, haben doch die Bundestagsabgeordneten die männliche Genitalverstümmelung erst legalisiert, bleibt dennoch die Frage offen, mit welchem Druckmittel der Landesverband der ach-so-toleranten-wir-müssen-darüber-reden Grünen Herrn Dunkel „überzeugt“ hat, seinen vorgezogenen Rücktritt zu erklären, auch wenn sich sein Kreisverband ausdrücklich hinter ihn stellt. Der deutschen Politik täten Leute mit mehr Rückgrat wirklich gut. Ich halte zwar von den sexistischen und faschistoiden Grünen genauso wenig wie von der CSU, aber ich kann mich des Eindruckes immer weniger erwehren, daß innerhalb der CSU mehr Meinungsfreiheit herrscht, als bei den Grünen. Weiterhin ist es nicht unbedenklich, wenn in einer parlamentarischen Demokratie in einem Akt von Gehorsam auf die Aussage eines zahlenmäßig unbedeutenden Verbandspräsidenten hin, eine Partei ihren Kandidaten kurz vor der Wahl abschießt, so hier von Dieter Graumann, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland geschehen:

Die Grünen sollten ihren Kandidaten jetzt ganz schnell zurückziehen und scharf zurechtweisen. Mit seiner arroganten und aggressiven Intoleranz ist er so jedenfalls in keiner demokratischen Partei tragbar.

Nichts desto trotz scheint das Gesetz nicht verfassungskonform zu sein und somit wird die Diskussion um die Beschneidung nicht so schnell aufhören.

Weiterführendes:

  1. It’s a Boy! (Humanist-news.com)
  2. Beschneidungsdebatte: Offener Brief jüdischer Filmemacher an den Bundestag (Humanist-news.com)
  3. Streitfall Beschneidung — ARD „Gott und die Welt“ (YouTube, 28:34)
  4. Maischberger: Himmel, Herrgott! Wieviel Religion braucht man zum Leben? (YouTube, 1:14:09)
  5. Gesetz über den Umfang der Personensorge bei der Beschneidung des männlichen Kindes vom 20.12.2012, Bundesgesetzblatt, 2012, Teil I, Nr. 61 v. 27.12.2012, S. 2749-2750 (PDF)

4 Kommentare

  1. Karin Grinda sagt:

    Sie können doch gar nicht wissen, ob Gefahr für Leib und Leben bestand. Seien Sie bitte vorsichtig mit ihren Aussagen.

  2. Rein logisch mögen Sie recht haben, aber soll ich wirklich von der Annahme ausgehen, daß die Grünen ihre Mitglieder unter Androhung von physischer Gewalt auf Linie bringen?

  3. Edith sagt:

    Die Beschneidung von männlichen Babys sollte in Europa nicht toleriert werden. Es bedeutet einen Rückschritt bezüglich unserer humanitären, medizinischen, psychosozialen, usw. Erkenntnisse und Errungenschaften, dass die Bundestagsabgeordneten die männliche Genitalbeschneidung legalisierten. Wer meint,seinen Sohn im 21. Jahrhundert noch beschneiden zu müssen, wer sich über die Menschenrechte hinwegsetzt, sollt dort wohnen, wo es erlaubt ist. Keinesfalls sollte die Regierung alte unreflektierte „Traditionen“ in Religionen, die den Menschen schwer beeinträchtigen, legalisieren.

  4. Ach, haben sie innerhalb einer Stunde eine 180° Kehrtwendung unternommen? In ihrem Kommentar http://www.feuerwaechter.org/2013/06/siegfried-kauder-will-straferleichterung-fuer-weibliche-genitalvestuemmelung/#comment-6472 hörte sich das noch so an:

    Beschneidung von Buben […] keine Beeinträchtigung der Sexualität und des Lustempfindens nach sich zieht
    […]
    Die männliche Beschneidung und weibliche Genitalverstümmelung ist nicht vergleichbar und daher kann auch der Gleichheitsgrundsatz nicht angewendet werden.

    Generell sollte gelten, daß medizinisch nicht indizierte, bleibende Veränderungen an Kindern zu unterbleiben haben. Und ja, ich stelle auch das Ohrlochstechen bei Babys und Kleinkindern erst einmal in Frage.

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