Betriebsblindheit eines Verfassungsjuristen


Der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier hat sich in einem Interview in der Welt u.a. zu der Abhöraffäre geäußert. Für ihn grenzt ein Schutz vor der Spionage durch fremde Geheimdienste an Unmöglichkeit und damit endet für ihn die Schutzpflicht des Staates. Mit dieser Einstellung offenbart er ein hohes Maß an Betriebsblindheit.

Papier: […]
So hat das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme – salopp: Computer-Grundrecht – abgeleitet und aus dem überkommenen Post- und Telefongeheimnis einen effektiven Schutz des Telekommunikationsverkehrs entwickelt. An einer Erkenntnis kommt man allerdings nicht vorbei …

Die Welt: … nämlich welcher?

Papier: Die deutschen Grundrechte und der ihnen gewährte Schutz durch das Bundesverfassungsgericht finden dort ihre Grenzen, wo es um Zugriffe geht, die nicht mehr der deutschen öffentlichen Gewalt zurechenbar sind. Da endet der freiheitsrechtliche Schutz der Bürger durch unsere Grundrechte.

Die Welt: Greift nicht die Schutzpflicht des Staates?

Papier: Der Staat hat in der Tat die grundsätzliche Pflicht, seine Bürger vor Zugriffen ausländischer Mächte zu schützen. Aber der Staat kann nur zu etwas verpflichtet sein, das er rechtlich und tatsächlich auch zu leisten vermag. Wo die Unmöglichkeit anfängt, endet die Schutzpflicht. Das rechtlich und tatsächlich Mögliche und Geeignete muss er aber zum Schutz seiner Bürger auch tun.

Richtig ist natürlich, daß das Bundesverfassungsgericht nur im Gültigkeitsbereich des Grundgesetzes seine Funktion wahrnehmen kann. Herr Papier übersieht aber bei seiner Argumentation, daß nicht alle auftretenden Probleme juristischer Natur sind und sich nur mit gesetzlichen Regelungen lösen bzw. eindämmen lassen, wie sich an einem einfachen Beispiel zeigen lässt.

Man denke hierbei nur an Epidemien. Infektionskrankheiten breiten sich in- und außerhalb des Gültigkeitsbereiches des Grundgesetzes vollkommen unabhängig von der rechtlichen Beurteilung irgend eines juristischen Organs aus, dennoch kann ein Staat in diesem Bereich handlungsfähig bleiben, sofern er Willens ist etwas zu unternehmen und der Politik fachkundige Expertise zur Seite steht. Diese kann jedoch zunächst nicht von Juristen kommen, denn einerseits besitzen sie diese Expertise nicht und andererseits können sie im Regelfall erst im Nachhinein regulierend eingreifen. Im Falle der Epidemien könnte eine Möglichkeit der Politik darin liegen, aktiv mittels Forschungsvorhaben und -geldern Impfstoffe gegen die auftretenden Keime zu entwickeln, um seiner Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern gerecht zu werden. Ich hoffe, daß Herr Papier sich im Falle der Epidemien nicht auf das Argument der rechtlichen Unmöglichkeit zurückziehen würde.

Das Ausmaß der von Edward Snowden aufgedeckten Abhöraffäre ist in gewisser Weise mit einer Pandemie vergleichbar. Mit juristischen Spielereien können wir die Geschehnisse außerhalb Deutschlands kurz- und mittelfristig nicht beeinflussen, aber die Politik hätte durch Investitionen in Forschung und Technologie Werkzeuge schaffen können, die ein derart flächendeckendes System der geheimdienstlichen Ausforschung bereits im Vorfeld hätte verhindern können. Daß dies nicht geschehen ist hat mehrere Ursachen. Eine davon ist die Tatsache, dass die Akteure in der Politik, in hohem Maße übrigens Juristen — schlechte noch dazu —, von technischer Inkompetenz auf allen Gebieten durchdrungen sind. Wann immer sie sich zu einem technisch-wissenschaftlichen Sachverhalt äußern, offenbaren sie ein enormes Ausmaß an fehlender Sachkunde. Bei der gegenwärtigen Regierungsmannschaft kommt aber noch eine grundsätzlich andere Auffassung von Grundrechten und Bürgerfreiheit hinzu. Diese bringt es mit sich, dass entsprechende Selbstschutzmaßnahmen im Grunde unerwünscht sind und daher auch keine Anstrengungen unternommen werden, sie zu entwickeln und umzusetzen. Dies erklärt die eigenartige Gelassenheit mit der die Regierung auf das Ausspähen ihrer Bürger durch fremde Mächte reagiert, denn weder wird ein Problem gesehen, noch ist man in der Lage, die technischen Implikationen überhaupt zu verstehen. Somit bleibt festzuhalten, dass die Absolution die Herr Papier hier der Merkelbande erteilt, keinesfalls gerechtfertigt ist, da er das Problem nur durch den äußerst engen Tunnel des Juristischen betrachtet.

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