Das Tuğçe-Beweisvideo

In den letzten Tagen hat die Presse eine Geschichte zu dem Vorfall auf dem Parkplatz von McDonalds in Offenbach aufgebaut, die einem Märchen, bei dem es nur schwarz und weiß gibt, gleichkommt: Junge schöne Frau hilft zwei noch jüngeren Mädchen, die von einem ungehobelten Kerl bedrängt werden. Anschließend wartet der Täter außerhalb des Restaurants bis die junge schöne, perfekt integrierte Migrantin das Restaurant verläßt, um sie brutal niederzuschlagen. Abgerundet wurde die Geschichte mit Hinweisen auf einschlägige Vorstrafen des Täters und der Darstellung seiner Person als Komplettversager. Natürlich forderte der Mob daraufhin härtere Gesetze und selbstredend die Todesstrafe. Allein schon das permanente Hervorheben in der Presse auf ihre Jugend und Schönheit waren eindeutig zu viel des Guten. Sicher, den Bildern nach zu urteilen war sie tatsächlich recht attraktiv, aber welche Rolle spielt das in diesem Zusammenhang? Wäre der Vorfall weniger schlimm und nicht weiter bemerkenswert gewesen, wenn es sich „nur“ um eine fette, häßliche, deutsche, erfolglose Mitvierzigerin auf Hartz IV gehandelt hätte?

Jetzt hat Bild das Überwachungsvideo, allerdings eine bearbeitete Version, von dem Parkplatz mit dem Vorfall veröffentlicht. Nimmt man mal an, daß nur unwesentliche Teile herausgeschnitten wurden, um es auf das Wesentliche zu kürzen, stellt sich der Vorgang nicht mehr ganz so eindimensional dar.

Für mich sieht das nicht nach einem Angriff auf Tuğçe aus Rache aus. Offenbar hat er nicht auf sie gewartet, sondern verließ nach ihr das Restaurant, überquerte den Parkplatz und ging zunächst an der Gruppe mit ihr schnell, geradezu ignorant vorbei. Erst danach kehrt er wild gestikulierend zurück. Es ist kein Originalton dabei, aber es sieht danach aus, als ob der Täter durch Nachrufe aus der Gruppe erst in Rage gebracht wurde. Sein Bekannter setzt sich körperlich massiv ein, um den Täter von der Gruppe fernzuhalten. Auch wenn das Video im Mittelteil unübersichtlich und unscharf ist scheint der Täter gar nicht unbedingt auf Tuğçe fixiert zu sein, sondern auf die Gruppe. Als es seinem Bekannten halbwegs gelingt ihn zu parkenden Autos abzudrängen, befindet sich noch ein Heckeil zwischen ihm und Tuğçe. Warum näherte sich Tuğçe derart an den Täter und den mit ihm rangelnden Bekannten an? Das war keine Schlägerei zwischen den Beiden, die es zu schlichten galt, sondern der Täter wollte an seinem Bekannten vorbei zu der Gruppe, was dieser aber durch Körpereinsatz zu verhindern suchte.

Was immer dort genau gesagt wurde, es muss den Täter enorm in Wut versetzt haben und Tuğçe scheint auf ihn eher wie in Feuer gegossenes Benzin gewirkt haben oder hat Tuğçe vielleicht doch absichtlich weiter provoziert? Das Einzige was wirklich zu sehen ist, daß von ihm ein Schlag kam und sie auf den Asphalt aufschlug. Jedoch kam der Schlag oder die Ohrfeige nicht in direkter Linie auf sie zu, sondern halb um seinen Bekannten herum, hat also viel von seiner Wucht verloren gehabt. Auf dem Video kann man nicht mal genau erkennen ob der Schlag sie überhaupt getroffen hat und sie nicht vielleicht bei einer Ausweichbewegung nach hinten überkippte. Nach dem Video wäre beides möglich. Es ist tatsächlich nicht auszuschließen, daß sie fürchterlich unglücklich gefallen ist. Ausgeschlossen werden kann aber wohl mit Sicherheit Mord aus Rache, selbst eine Tötungsabsicht ist nicht wirklich sichtbar.

Interessant wäre es natürlich noch zu erfahren, was am Anfang der Geschichte vor den Toiletten mit den beiden Mädchen tatsächlich vorgefallen ist und warum sie sich bisher nicht gemeldet haben (Angst vor ihren Eltern? Angst vor dem Täter? Kannten sie den Täter bzw. er sie?). Zweifelsohne ist der Täter recht aufbrausend und kein Unschuldslamm, aber war er dort vor den Toiletten tatsächlich im Unrecht?

Wie meist bei solchen durch die Presse als zunächst vollkommen eindeutig dargestellten und entsprechend ausgeschmückten Geschichten, stellt sich auch hier bei näherem Hinsehen der Sachverhalt mal wieder als weitaus komplizierter dar. Auch die Politik trägt nicht unbedingt zur Deeskalierung der Lage bei, wurde doch der Vorfall im hessischen Landtag für ferministische Aktionen mißbraucht. Weiterhin hat Bundespräsident Joachim Gauck eine Prüfung auf eine posthume Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Tuğçe Albayrak in Aussicht gestellt. Auch wenn er dringend weibliche Ordensaspiranten braucht, um den Verleihungsstau abzubauen, scheint mir dieser Fall für eine Ehrung wenig geeignet zu sein.

Wenigstens haben zumindest nach außen hin die Behörden bisher vernünftig gehandelt und sich nur sehr verhalten zu dem Vorgang geäußert. Gerade in solchen gesellschaftspolitisch ohnehin brenzligen Fällen stünde es allen an, sich mehr an den zur Verfügung stehenden Fakten zu orientieren.

Nachtrag 02.12.2014:
Da die Meinungen zur Veröffentlichung des Videos ziemlich geteilt sind — ein Heldenepos könnte schließlich zusammenbrechen — hier ein Verweis zum Runterladen, falls das Video von der oben verlinkten Seite genommen werden sollte: Tuğçe-Beweisvideo (11,2 MB; mp4).

Die Zeitungen die das Video jetzt — angeblich auf Wunsch der Eltern von Tuğçe — von ihren Webseiten entfernt haben, agieren mehr als scheinheilig, haben sie doch erst die Geschichte tagelang hochgepuscht. Jetzt wo das Video ein paar mehr Fakten aufdeckt und sich herausstellt, daß es nicht ganz so gelaufen wie zunächst dargestellt, nehmen sie vorgeblich plötzlich Rücksicht auf die Eltern.

Nachtrag 07.12.2014:
Man weiß immer noch nicht was genau passiert ist, aber schon kommt ein Politiker aus seinem Loch gekrochen und will eine Brücke nach Tuğçe benennen. Einfach mal bei jeder unpassenden Gelegenheit um Wählerstimmen betteln.

Ein Kommentar

  1. […] Zweifel an seiner Täterschaft hegen, wie ich bereits am Tag der Veröffentlichung des Videos schrieb. Man sehe es sich wirklich mal ganz langsam an, darauf ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, daß ein […]

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