Tuğçe Albayrak: Heldenverehrung und Dämonisierung um jeden Preis

Die Geschichte mit der ums Leben gekommenen Tuğçe Albayrak beginnt sich inzwischen vollends von den Fakten zu lösen, wie bei Stille Post. Aus dem Einzeltäter wird eine Männergruppe, die zwei junge Mädchen in der McDonalds Toilette sexuell belästigten und anschließend Tuğçe auf dem Parkplatz gemeinschaftlich attackierten (Think Progress von Tara Culp-Ressler, Lieblingsthema: Vergewaltigung).

Thousands of German citizens are mourning a 23-year-old student who was murdered for sticking up for two teenage girls getting sexually harassed by a group of men.
[…]
She confronted their attackers, allowing the teens to escape the situation. But later, in the parking lot of the fast food restaurant, the same men attacked her and allegedly beat her with a baseball bat — an assault that was captured on grainy video footage.

Auch der Spiegel widmet sich heute ganz ausführlich, im neuen Heft sogar mit einem eigenen Beitrag, dem Leben des angeblichen Täters. Ich schreibe hier absichtlich angeblich, weil bisher öffentlich überhaupt noch nicht feststeht, daß er überhaupt ein Täter ist! Die Beweislage dazu ist weitaus weniger eindeutig, als die Presse behauptet („Tuğçe eilte zur Hilfe und fiel ins Koma“) und je länger es dauert, desto mehr Fragen tauchen auf. Man kann also durchaus begründete Zweifel an seiner Täterschaft hegen, wie ich bereits am Tag der Veröffentlichung des Videos schrieb. Man sehe es sich wirklich mal ganz langsam an, darauf ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, daß ein Schlag von ihm sie überhaupt getroffen hat. Die eher zierliche, im Zweifelsfalle körperlich unterlegene Tuğçe nähert sich den zwei rangelnden Männern aus unersichtlichen Gründen auf Schlagweite. Warum? In dieser Entfernung kann jeder sich Annähernde unbeabsichtigt getroffen werden. Auch gibt es dem Video nach zu urteilen mehrere Möglichkeiten, die zum Tode hätten führen können:

  • Sanel M.s Schlag hat sie mittel- oder unmittelbar niedergestreckt.
  • Tuğçe und der Freund von Sanel sind aufeinander geprallt
  • Tuğçe hat eine Ausweichbewegung gemacht und ist hintenübergekippt. Was für Schuhe trug Tuğçe eigentlich? Schuhe mit Absätzen sind die denkbar schlechteste Grundlage für das Eingreifen in Kampfhandlungen, da kann Frau schnell umknicken.

Ein weiterer, wesentlicher Punkt der bisher überhaupt nicht angegangen wird, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Eingreifen von Tuğçe bei den beiden Mädchen vor der Toilette und dem Gerangel auf dem Parkplatz. Das Eine muss nicht unbedingt etwas mit dem Anderen zu tun haben, außer daß in beide Vorfälle sowohl Tuğçe als auch Sanel verwickelt waren. Ich halte das insofern für höchst relevant, da die von der Presse aufgebaute Heroisierung genau diesen ursächlichen Zusammenhang benötigt: Tuğçe hilft zwei Schwächeren (für die der Vorfall nicht sonderlich beeindruckend war) und wird dann aus Rache getötet. Nur kann dies so nicht stimmen, soviel steht fest. Auf dem Video richtet sich Sanels Wut zunächst gar nicht gegen Tuğçe sondern gegen die Gruppe oder jemanden aus der Gruppe. Könnte es sich also um zwei unabhängige Vorfälle in zeitlicher Nähe zueinander handeln? Auch wird allmählich immer deutlicher, daß das Handeln von Tuğçe, welches zu ihrem Tode führte nicht sehr viel mit nachahmenswerter Zivilcourage — sie bringt sich selbst unbegründet in Gefahr — zu tun hat, sondern doch wohl eher mit Selbstüberschätzung.

Sanel war dem Spiegel nach nicht sonderlich erfolgreich in seinem Leben, hatte Vorstrafen und betrunken war er zur Tatzeit auch noch, wird zumindest behauptet, es braucht schließlich einen Dämon der die Heldin niederstreckte. Er soll ca. zwei Stunden. nach dem Vorfall eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,4 ‰ aufgewiesen haben. Legt man eine Blutalkoholabbaugeschwindigkeit von 0,2 ‰h⁻¹ zu Grunde, müsste die BAK zur Tatzeit bei maximal 1,8 ‰ gelegen haben. Realistisch ist eine BAK im Bereich von 1,6-1,8 ‰. Das ist insofern wichtig, als das hier ggf. noch keine verminderte Schuldfähigkeit greifen würde. Gleichzeitig soll er noch in der Lage gewesen sein klar zu sprechen. Hier wird also ganz klar durch Unterlassung der Erwähnung der Möglichkeit, daß er kurz nach der Tat noch mal richtig zugelangt hat, dem Täter ein Alkoholproblem unterstellt, denn seine klare Sprache wäre bei diesen Werten auf Gewöhnung zurückzuführen.

Für meinen Geschmack wird das allmählich überdeutlich zuviel Schwarz-Weiß-Malerei, denn noch immer weiß man nicht was genau und warum passiert ist, aber man will in Tuğçe unbedingt sofort eine Heldin sehen, mit Bundesverdienstkreuz — möglichst ohne nachzudenken — , ja selbst der Vorschlag eine Brücke nach ihr zu benennen taucht auf. Warum eigentlich?

Gleichzeitig findet der 21-Jährige, der bei einem Überfall erschossen wurde, weil er eingegriffen hat, praktisch keine Beachtung. Auf der einen Seite wird die vermeindliche Zivilcourage einer jungen hübschen bestens integrierten Migrantin, die unnötigerweise eingreift, obwohl gar keine Gefahrensituation vorlag über alle Maßen gelobt, wohingegen das Eingreifen eines jungen weißen Mannes in eine Bedrohungslage — die Kassiererin wurde mit einer Schusswaffe bedroht — schon fast totgeschwiegen wird. Warum wird mit derart unterschielichem Maß gemessen? Frau sehr gut, Mann egal?

4 Kommentare

  1. Rego sagt:

    Hallo, Ich haben nun mal geziehlt danach gegoogelt weil ich einfach nicht glauben und verstehen kann das Tugce so hochgejubelt wird als wäre sie aber auch nur sie die Heilige. Ich bin froh das ich auf diesen Artikel gestoßen bin. Denn so weiß ich das ich nicht die einzige bin die so denkt. Als ich das aller erste mal über Tugce und ihre „Heldentat“ gelesen habe war mir sofort klar wo das alles hin führt und das es nicht alles so stimmen kann. Ich habe sofort geahnt das die „liebe“ Tugce wahrscheinlich den Sanel provoziert. Wer weiß was sie alles gesagt hat. kann mir gut vorstellen das sie da nur am fluchen war, ich finde es eine Schande und so erbärmlich das Sanel jetzt darunter leiden muss, das man ihm die ganze schuld gibt. sowas kann ich einfach nicht verstehen. vor allem wie die Menschen verarscht werden.

  2. Sanel ist nun ja bei Weitem kein Unschuldslamm und aller Wahrscheinlichkeit nach ein ziemlicher Hitzkopf, bei dem eine solche Situation absehbar war. Mit einem dickeren Fell versehen, wäre er einfach weggefahren. Das Hauptprobem ist doch aber, das eigentlich durch die Presse eine vollkommen andere Geschichte erzählt wird. Was die Presse hier macht scheint mir ziemlich gefährlich zu sein, da sie mit diesem Heldenmythos zur Nachahmung aufruft. Wütende Be- oder Angetrunkene sollte man wann immer möglich meiden, egal was sie von sich geben. Das ist immer lebensgefährlich, insbesondere jedoch für zierliche Frauen mit ihrem deutlich geringeren Kampfgewicht und der naturgemäß geringeren Körperkraft. Eine aktue Gefahr für Leib und Leben, wo sie hätte eingreifen müssen, war auf dem Parkplatz einfach nicht gegeben.

  3. […] zwei Jahren kam Tuğçe Albayrak durch eine Ohrfreige von Sanel M. zu Tode (hier & dort), der daraufhin wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu drei Jahren Jugendhaft […]

  4. […] al-Bakr gefesselt der Polizei übergeben haben. Das erinnert entfernt an die Angelegenheit mit Tuğçe Albayrak vor einigen Jahren. Bevor eine Angelegeheit vollständig aufgeklärt ist, werden Helden gekürt und […]

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