Wenn wahre Grafiken lügen

Im Jahre 2005 trat im US-Bundesstaat Florida ein neues, von Anfang an umstrittenes Selbstverteidigungsgesetz in Kraft, das „Stand-your-ground law“, welches den Einsatz tödlicher Gewalt gegen einen (vermeindlichen) Angreifer regelt.

A person who is not engaged in an unlawful activity and who is attacked in any other place where he or she has a right to be has no duty to retreat and has the right to stand his or her ground and meet force with force, including deadly force if he or she reasonably believes it is necessary to do so to prevent death or great bodily harm to himself or herself or another or to prevent the commission of a forcible felony.

Jetzt wurde über Reuters eine grafische Darstellung verbreitet, welche die Auswirkungen des Gesetzes veranschaulichen soll:

Originale, über Reuters verbreitete Darstellung, des zeitlichen Verlaufs zur Gewaltentwicklung.

Originale, über Reuters verbreitete Darstellung, des zeitlichen Verlaufs zur Gewaltentwicklung.

Der „Erfolg“ des Gesetzes scheint beachtlich. Im Jahre 2005 bricht die Kurve unübersehbar nach unten ein. Doch man beachte die inverse Darstellung auf der Y-Achse! Dadurch stehen hier Berge für eine Abnahme und Täler für eine Zunahme, d.h. die Einführung des Gesetzes scheint nicht etwa zu weniger Gewalt, wie es der optische Eindruck des Verlaufes nahe legt, sondern zu einem deutlichen Anstieg zu führen. Immerhin von ca. 500 auf über 800 Fälle pro Jahr innerhalb von zwei Jahren.

Ich habe schon seit langem nicht mehr eine derart perfide Darstellung zu Gesicht bekommen, die zwar formal richtig, aber intentionell eindeutig die Irreführung des Lesers durch Wahl einer maximal nicht-intuitiven Darstellungsform ist. In der von mir korrigierten Darstellung, in der Zunahmen durch Anstiege und Abnahmen durch Gefälle symbolisiert werden, tritt die vermutlich verheerende Auswirkung des Gesetzes auch optisch deutlich zu Tage. Ein seit Jahren anhaltender Trend sinkender Gewalttaten wird jäh abgebrochen. Es liegt die Vermutung nahe, daß durch dieses Gesetz die Fortschritte bei der Gewaltreduzierung der letzten Dekade(n) zu nichte gemacht worden sind.

Korrigierte Form, in der der optische Eindruck mit dem zeitlichen Verlauf übeeinstimmt.

Korrigierte Form, in der der optische Eindruck mit dem zeitlichen Verlauf übeeinstimmt.


Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, daß ich „scheint“ und „vermutlich“ schrieb. Dies ist kein Versehen sondern Absicht, denn es gilt die statistische Dreifaltigkeit zu beachten:

Koinzidenz ≠ Korrelation ≠ Kausalität

Unabhängig von der Form der grafischen Darstellung wird in beiden Fällen nur die Änderung eines Parameters (Anzahl der Fälle) im Laufe der Zeit dargestellt, nicht mehr, nicht weniger. Der Verlauf erlaubt jedoch keine Aussage über die Kausalität. Die einzige Aussage die an Hand dieser Grafik getroffen werden kann ist, daß es im Jahre 2005 und danach zu einer drastischen Zunahme an Gewalttaten gekommen ist. Die Ursache könnte das neue Gesetz sein, es könnte aber auch in 2005 ein weiteres Ereignis eingetreten sein oder etwas in diesem Jahr seine Wirkung entfaltet haben, welches der eigentliche Auslöser ist. Dann würde es sich nur um ein zufälliges Aufeinandetreffen, eine Koinzidenz, mit der Verabschiedung des Gesetzes handeln. Ein solcher Verlauf allein ist niemals ein Beweis für eine Ursache, sondern immer nur ein Hinweis auf eine mögliche Ursache, mithin also Ansatzpunkt für weitergehende Forschungen. Die Ursache muss anders belegt werden. Generell sind jegliche Visualisierungen von Datenmaterial immer mit Vorsicht zu genießen.

Nichts desto trotz ist die über Reuters verbreitete Darstellung geradezu ein Lehrbeispiel für Manipulation.

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