Der erste Band der neuen Reihe „Naturphilosophie“ aus dem LIT-Verlag stammt von der japanischstämmigen Autorin Prof. Dr. phil. Hisaki Hashi von der Universität Wien. Es ist eine Sammlung ihrer anspruchsvollen Veröffentlichungen in deutscher und englischer Sprache aus den Jahren 2003 bis 2009 zu Berührungspunkten zwischen Philosophie und der Physik des 20. Jahrhunderts, jedoch ohne übergreifende Einbettung der Artikel und ohne Stichwortverzeichnis. Insbesondere interessieren sie hierbei die Auswirkungen der Ergebnisse von Relativitätstheorie und Quantenphysik auf die Schlussfolgerungen in der Philosophie, unter Bezug auf Werke von Kant, Cassirer, Tanabe, Nishida, Hegel und Popper. Das Werk ist in drei Hauptteile mit sechs eigenständigen Artikeln gegliedert:
- Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre Einflüsse auf Erkenntnis und Logik
- Erkenntnisse der Quantenphysik und ihre Einflüsse auf Wissenschaftsphilosophie
- Interdisziplinärer Dialog von Physik und Philosophie
Der dritte Hauptteil ist ein interdiziplinäre Dialog zwischen der Autorin und dem Elementarteilchenphysiker Prof. Dr. Herbert Pietschmann von der Universität Wien aus dem Jahre 2008.
Die Struktur der der Artikel entspricht der üblichen Struktur wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Jeweils beginnend mit de Erläuterung der naturwissenschaftlichen Grundlagen an Hand von Schaubildern und Gleichungen, Zusammenfassung der Ergebnisse und Gegenüberstellung zu den philosophischen Erkenntnissen. Der avisierte Leserkreis benötigt zum Verständnis der Sachverhalte solide Grundlagen sowohl in Physik als auch Philosophie. Insgesamt nehmen die Erläuterungen zu den physikalischen Grundlagen ist mehr Raum ein. Ob der mathematische Formalismus dürfte oftmals wohl eher als störend empfunden werden. Eine Erkenntnis aus der Relativitätstheorie ist bspw., daß es keine absolute Länge gibt. Wie die Längenkontraktion aber bei relativistisch bewegten Objekten jedoch berechnet wird, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.
Dennoch kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass sich die Autorin, bei den zugegebenermaßen hochkomplexen und der (Alltags-)Erfahrung nicht zugänglichen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht immer auf vollkommen trittsicherem Gelände bewegt, wie an einigen Beispielen belegt werden soll: „Die Strecke, die von der Multiplikation des gekürzten Stabes und der sich verlangsamenden Uhr gerechnet wird, fällt mit der Multiplikation des ruhenden Stabs und der ruhenden Uhr zusammen, da das erstere Bezugssystem in seinem Längswert die Verkürzung und in seinem Zeitwert eine proportionale Verlangsamung hat.“ (S. 27) Ob solcher Formulierungen kräuseln sich dem Physiker die Nackenhaare und der naturwissenschaftliche Laie wird in die Irre geführt, denn schon das Produkt aus Weg und Zeit ist niemals eine Strecke. Auch bezeichnet die Autorin die Lichtgeschwindigkeit mehrmals als „absolute Naturkonstante“. Dadurch erwecken ihre Aussagen den Eindruck, die Lichtgeschwindigkeit sei dem Betrage nach tatsächlich eine Konstante und verstärken somit diese weit verbreitete, wiewohl falsche Auffassung. Besser wäre es gewesen von Vakuumlichtgeschwindigkeit zu sprechen. Aber vermutlich gehen solche Ungenauigkeiten in der Fülle der Informationen im Gesamtkontext unter. Darüberhinaus haben sie hier keinen Einfluss auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand, den Einfluss der physikalischen Erkenntnisse auf die Philosophie. Die Artikel im ersten Abschnitt ihres Buches widmen sich dem Einfluss der Ergebnisse aus der Relativitätstheorie auf Erkenntnis und Logik. Der fundamentale Unterschied zwischen dem Galileisch/ Newtonschen Weltbild und dem Relativischen von Einstein liegt in der Zusammenführung der drei Raumdimensionen einerseits und der Zeit andererseits zu einer Raumzeit. Durch Lorentzkontraktion (Längenkontraktion relativistisch bewegter Objekte in Bewegungsrichtung zu einem externen Beobachter) und Zeitdilatation (Zeitdehnung bei relativistisch bewegten Objekten und im Gravitationsfeld) kommt es zu einer vollkommen neuen Auffassung des physikalischen Ortes und der physikalischen Zeit sowie zur Einführung einer Orts-Zeit in Verbindung mit einer Orts- Länge. Nun ist aber die vorrelativistische Auffassung von Raum und Zeit die Grundlage der Elementarlehre der reinen Vernunft. Konnte Kant noch nichts über die Auflösung von absoluter Zeit und absoluter Länge wissen, müssen dies nicht nur Neu-Kantianer wie Cassirer berücksichtigen, wollen sie nicht in Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaft geraten. Auf mögliche Implikationen zur Auffassung von Raum & Zeit versus Raumzeit für die Psychologie wird kurz hingewiesen, jedoch ohne näher darauf einzugehen. Der zweite Abschnitt umfasst die Artikel, die sich mit den Einflüssen der Quantenphysik auf die Wissenschaftsphilosophie beschäftigen. An den Denkweisen zu Hegel und Popper bzgl. deren philosophischer Interpretation der Quantentheorie übt sie Kritik, da sie ihrer Meinung nach eine Naturtheorie an Hand des Aufbaus ihrer Philosophie konstruieren. Für sie besteht dabei die Gefahr, dass sich die Philosophie durch axiomatische Denkmodelle in eine spekulative Denkrichtung bewegt. Deutlich ausführlicher, unter dem Hinweis, dass es keinen historischen Zusammenhang zwischen der Quantentheorie und der außereuropäischen Philosophie gibt, befasst sie sich mit der Denkweise der neuen Seinsdynamik nach Nagarjuna (2-3 Jhrd. n.u.Z.), der sich davon abwendet, den Dualismus von Sein und Nicht-Sein eines Seienden mit nur einer Kategorie fassen zu wollen und dafür den Begriff der Leere (sunyata) einführt, so wie auch Quanten in ihrem Dualismus nur eine zeitweilige Realität darstellen. Allerdings schließt sie auch hier explizit die Problematik mit Existenzphilosophie und Psychologie aus. Auch Nishida, der im Gegensatz zu Nâgârjuna, bereits den Anfang der Quantenphysik erlebt hat und auch Kenntnis von der Heisenbergschen Unschärferelation hatte, versucht mit seinem Begriff des mu dem kategorialen Dualismus zu entkommen und eine absolute Offenheit zur Erfassung der Wirklichkeit auszubilden. Nishida ist es dabei durch philosophische Deduktion gelungen, das Wesen der Quantendynamik zu beschreiben: Während sich eine Eigenschaft enhüllt (Sein), bleibt die andere im Verborgenen (Nicht-Sein), aber beide zusammen bilden ein komplementäres Paar. Dies entspricht genau dem Verhalten von Quanten, die sich je nach Experiment als diskretes Teilchen oder als kontinuierliche Welle zeigen. Der dritte und letzte Abschnitt, der interdisziplinäre Dialog zwischen Hashi und Pietschmann, eignet sich gut als Einstieg in die Thematik, denn hier werden die zu Grunde liegenden philosophischen und naturwissenschaftlichen Gedankengänge deutlich durch die Gesprächspartner herausgearbeitet. Für Hashi beruht die schwere Verständlichkeit der Quantenphysik auf einem fundamentalen Interpretationsirrtum sowohl bei Physikern als auch bei (westlichen) Philosophen, die dem aristotelischen Substanzgedanken – alles Seiende existiert in substantieller Körperlichkeit in Raum und Zeit – verhaftet sind. In der Welt der Quanten jedoch führt der aristotelische Begriff der Substanz zu unauflösbaren logischen Widersprüchen, man denke hier an das Entweder-Oder-Problem beim Welle-Teilchen-Dualismus. Wird in der aristotelischen Welt die Eigenschaft eines Objektes gemessen, so wird in der Quantenwelt eine Eigenschaft durch die Messung erst hergestellt. An dieser Stelle wird auch aufgezeigt, dass die Quantenphysik gewisse Parallelen mit der Philosophie Platons und dem buddhistischen Konzept aufweist, nach dem alles Seiende, inklusive der Zeit an sich, unbeständig ist. Auch passt das Quantenfeld gut zum postulierten Urgrund des Seins, der Leere (sunyata nach Nagarjuna oder dem mu im Sinne von Nishida) im Sinne von „das Unbeschränkt-Offene“. Letztendlich verbleibt nach der Lektüre ein zwiespältiger Eindruck. Der Versuch, ausgehend von den physikalischen Grundlagen die relevanten Erkenntnisse von Relativitäts- bzw. Quantentheorie und philosophische Implikationen gemeinsam auf jeweils einigen Seiten abzuhandeln, muss unvollständig bleiben. Unstrittig ist aber, dass Physik und Philosophie in einer komplementären Beziehung zueinander stehen sollten: „Erkenntnis der Physis wird dann erreicht, wenn der Denkende frei von jeglicher Doktrin ein widerspruchsloses Gesetz aus dem noetisch-noematischen Ort der physikalischen Einsicht ableitet. Und wie dieser Ort der partiellen Erkenntnisse der Physik in einer kosmologischen Vernunfttheorie reflektiert wird und in welcher Weise er zu einem System des Netzes alles Seienden aufgeschlossen werden kann, gehört zur Aufgabe der Philosophie, die als reflektierendes Wissen allen Wissenschaften zugrunde liegen kann.“ (S. 47).